Kürzlich sprach ich mit einer Freundin, die ein Angebot für eine Bereichsleitung erhalten hatte. Sie hätte den Job grundsätzlich angenommen – aber nicht unter den derzeitigen Bedingungen: zu wenig zeitliche Flexibilität, zu viel Präsenzpflicht, keine tragfähige Lösung für die Kinderbetreuung, wenn beide Elternteile in einem verantwortungsvollen Job arbeiten.
Ihre Entscheidung war kein Entscheid gegen eine Führungsposition, aber sie zeigt exemplarisch das Dilemma auf, in dem sich viele Frauen befinden: Sie können – und wollen – nicht zwischen Karriere und Familie entscheiden. Dies ist kein Einzelfall und könnte ein Grund dafür sein, warum sich der Anteil an weiblichen Führungskräften nur langsam entwickelt. Obwohl Unternehmen Netzwerke und Förderprogramme zur Verfügung stellen, ist der Anteil von Frauen in Führungspositionen in den letzten Jahren kaum gewachsen.
Stagnierende Entwicklung
Zwar zeigen die Daten aus dem Jahr 2023 mit über 400 Personen, die bei der Avenir Group ein Assessment absolviert haben, einen von 9 Prozent (2009) auf 26 Prozent (2021) steigenden Frauenanteil in Managementpositionen, doch stagniert die Entwicklung seit einigen Jahren oder geht sogar leicht zurück. Besonders deutlich zeigt sich das auf der Stufe der Teamleiterinnen. Ausgerechnet dort, wo die Führungskräfte auf höhere Managementpositionen vorbereitet werden, ist der Rückgang signifikant. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich viele Frauen in einem Spannungsfeld befinden: Sie stehen beruflich vor der Möglichkeit, eine Führungsposition zu übernehmen, und gründen gleichzeitig eine Familie. Finden sie in dieser Phase keine tragfähigen Strukturen für Vereinbarkeit, entscheiden sie sich nicht selten gegen einen nächsten Karriereschritt oder ziehen sich ganz aus der Führungsrolle zurück.
Eine aktuelle Befragung unter 100 Frauen, die keine oder keine weitere Führungsaufgabe übernehmen möchten, gibt deutliche Hinweise. 46 Prozent nennen die schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Familie als Hauptgrund – ein signifikanter Anstieg gegenüber früheren Erhebungen. Hinzu kommen fehlende betriebliche Rahmenbedingungen wie Teilzeitangebote, mangelnde Unterstützung durch Vorgesetzte oder schlicht der Wunsch, nicht über das eigene Limit hinaus zu arbeiten.
Viele Frauen berichten zudem, dass sie sich in bestimmten Führungskulturen nicht beachtet oder ernst genommen fühlten. Stereotype Vorstellungen davon, wie eine Führungskraft aufzutreten hat, wirken immer noch abschreckend und können Frauen daran hindern, eine Führungsrolle zu übernehmen. Wer als Frau klar auftritt, gilt schnell als zu fordernd. Wer sich zurücknimmt, ist nicht durchsetzungsfähig genug.
Eine Systemfrage
Die Karrieren brechen nicht ab, weil Frauen nicht wollen, sondern weil es in der Summe nicht aufgeht. Wer den Anteil von Frauen in Führungspositionen langfristig erhöhen will, muss deshalb vor allem an einem Punkt ansetzen: der strukturellen Ermöglichung von Vereinbarkeit. Dazu braucht es mehr als Home-Office oder ein 80-Prozent-Pensum. Es braucht Führungskulturen, in denen geteilte Verantwortung, flexible Arbeits- und Führungsmodelle im oberen Kader, Vorbilder mit erreichbaren Biografien und ein realistischer Umgang mit Belastung zur Normalität werden. Und es braucht Führungskräfte, die diese Veränderungen nicht nur mittragen, sondern vorleben. Denn Vereinbarkeit ist keine Frauenfrage. Sie ist eine Führungsaufgabe – und eine Systemfrage.
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