Kinder passen nicht mehr automatisch in die Lebensentwürfe

Zwischen Karriere und Nachwuchsplanung: Warum immer weniger Menschen Kinder bekommen und was Politik, Medizin sowie Wirtschaft tun könnten, um den Trend hierzulande zu bremsen – darüber wurde an einer Veranstaltung von «NZZ Live» lebhaft diskutiert.

Noch nie war die Geburtenrate in so vielen Ländern so tief wie heute. Auch in der Schweiz liegt sie deutlich unter dem Wert, der nötig wäre, um die hiesige Bevölkerung stabil zu halten. Die Folgen sind gravierend: Fachkräftemangel, eine alternde Gesellschaft, steigende Gesundheits- und Sozialkosten.

Vor diesem Hintergrund wurde am Mittwoch, 3. September 2025, bei einem Anlass von «NZZ Live» in Zürich über das Thema «Familie? Vielleicht später!» diskutiert. Auf der Bühne sassen: Barbara Künzle, Partnerin bei Avenir Group und Expertin für Karriere, Katja Rost, Soziologieprofessorin an der Universität Zürich, und Gideon Sartorius, Reproduktionsmediziner bei fertisuisse. Durch den Abend führte Nicole Althaus, Kolumnistin, Autorin der «NZZ am Sonntag» und Gründerin des «Mamablog». Unterstützt wurde die Veranstaltung vom Pharmaunternehmen Merck Schweiz mit Sitz in Zug (siehe Infobox unten).

Selbstverwirklichung statt Pflichtgefühl
Die Frage, warum immer weniger Kinder geboren werden, lässt sich nicht mit einer einfachen Antwort erklären. Katja Rost betonte gleich zu Beginn, dass es zwar oft der Emanzipation oder der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln zugeschrieben werde, die eigentliche Ursache aber tiefer liege. «Es ist ein gesellschaftlicher Wandel. Selbstverwirklichung ist heute das Leitmotiv – Ausbildung, Reisen, Karriere. Kinder passen nicht mehr automatisch in diese Lebensentwürfe», sagte sie. Befragungen unter Studierenden an der ETH und der UZH belegten dies: «Nur noch rund die Hälfte kann sich überhaupt vorstellen, Kinder zu haben.»

Barbara Künzle beobachtet in ihrer Arbeit mit jungen Frauen, dass diese nicht auf Kinder verzichten wollten, sondern auf Strukturen stiessen, die Vereinbarkeit erschwerten. «Die Frauen, die wir begleiten, wollen Karriere machen und gleichzeitig eine Familie gründen. Aber die Rahmenbedingungen sind oft so, dass sie sich für eines entscheiden müssen», erklärte sie. Eine Befragung von mehreren Hundert Frauen in Führungspositionen habe bestätigt, dass fehlende Vereinbarkeit einer der Hauptgründe sei, weshalb Frauen ihre Karriere unterbrechen oder ganz aufgeben.

Karriere oder Kinder – oder beides?
Besonders problematisch sei der Mangel an Rollenvorbildern. «Wenn Frauen sehen, dass es möglich ist, eine Managementposition zu halten und gleichzeitig Kinder zu haben, trauen sie es sich eher zu. Diese Beispiele fehlen. Und das gilt übrigens genauso für Männer, die eine aktive Rolle in der Familie übernehmen möchten», betonte Barbara Künzle. Für viele junge Frauen sei es frustrierend, dass sie auch im Jahr 2025 noch mit denselben Fragen ringen wie Generationen zuvor.

Gideon Sartorius kennt aus seiner Praxis die Konsequenzen, wenn Kinderwünsche immer weiter aufgeschoben werden. «Die Illusion, dass es irgendwann leichter wird, Kinder zu bekommen, hält sich hartnäckig. Aber das Gegenteil ist der Fall», warnte er. Ab Mitte 30 sinke die Fruchtbarkeit deutlich, ab 40 noch stärker. Zwar könne die Medizin vieles kompensieren, doch die Möglichkeiten seien begrenzt. «Die biologische Uhr tickt – und sie tickt sehr laut. Je früher Paare sich für Kinder entscheiden, desto besser sind die Chancen.»

Der Kinderwunsch in der Warteschleife
Viele Paare kämen zu ihm, nachdem sie jahrelang versucht hätten, schwanger zu werden. Typisch seien Menschen zwischen 35 und 40 Jahren, die bereits beruflich etabliert seien und das Kinderkriegen dann in Angriff nähmen – oft zu spät. «Ich sehe die Paare erst, wenn es nicht klappt. Sie haben ihre Ziele im Beruf erreicht, reisen können, vielleicht die richtige Wohnung gefunden. Doch dann merken sie, dass die Natur andere Pläne hat», sagte Gideon Sartorius.

Eine Möglichkeit, die biologische Grenze hinauszuschieben, ist das Einfrieren von Eizellen. Immer mehr junge Frauen nutzen diese Technik – teilweise sogar mit Unterstützung ihrer Arbeitgeber. Barbara Künzle sieht darin eine ambivalente Entwicklung: «Social Freezing kann Druck nehmen und Frauen entlasten. Aber die Botschaft sollte nicht sein: Erst Karriere, dann Kinder. Sie sollte lauten: Bei uns sind Karriere und Kinder gleichzeitig möglich.»

Social Freezing: Versicherung oder Illusion?
Auch Gideon Sartorius relativierte den Zusammenhang mit beruflichen Ambitionen. Viele Frauen entschieden sich nicht aus Karrieregründen für Social Freezing, sondern weil eine Partnerschaft fehle oder unsicher sei. «Der Hauptgrund ist, Zeit zu gewinnen. Viele Frauen haben mit Mitte dreissig eine stabile berufliche Situation, aber keinen Partner. Für sie ist das vorsorgliche Einfrieren eine Art Versicherung», so der Mediziner.

Neben den biologischen Fakten spiele auch die gesellschaftliche Wahrnehmung eine Rolle. Katja Rost stellte fest, dass Kinder heute weniger als selbstverständlicher Bestandteil des Lebens gesehen werden. «Früher war man ohne Kind ein Outsider. Heute ist es umgekehrt: Wer Kinder hat, muss sich rechtfertigen, weil damit scheinbar Einschränkungen verbunden sind.» Hinzu komme die enorme Erwartungshaltung an die Eltern: perfekte Betreuung, ungeteilte Präsenz, höchste Ansprüche an Förderung und Erziehung. «Viele schreckt diese Last ab», erklärte die Soziologin.

Neue gesellschaftliche Erwartungen
Barbara Künzle plädierte dafür, Elternschaft stärker positiv zu besetzen. «Eltern bringen wichtige Kompetenzen in Unternehmen ein – Organisationstalent, Belastbarkeit, Führungsstärke. Statt Vereinbarkeit immer als Problem zu sehen, sollte man Elternschaft als Ressource begreifen.» Sie forderte ein Umdenken in den Unternehmen: Elternschaft müsse anerkannt und wertgeschätzt werden, auch von Vorgesetzten und in der Unternehmenskultur.

Im Gespräch wurde deutlich, dass Vereinbarkeit nicht allein ein Frauenthema ist. «Es braucht männliche Rollenvorbilder», forderte Gideon Sartorius. Männer müssten zeigen, dass auch sie Verantwortung für die Familie übernehmen können – etwa durch Teilzeitmodelle oder Jobsharing. Doch diese Angebote würden bisher fast ausschliesslich von Frauen genutzt. «Viele Männer wissen gar nicht, dass sie die gleichen Rechte haben. Es fehlen sichtbare Beispiele», ergänzte Barbara Künzle.

Politische Anreize – begrenzte Wirkung
Die Podiumsteilnehmer waren sich einig, dass Veränderungen nicht nur auf individueller, sondern auch auf struktureller Ebene nötig sind. Arbeitszeiten, Sitzungspläne oder Elternzeitregelungen müssten so gestaltet sein, dass beide Elternteile von Beginn an Verantwortung übernehmen könnten. Weltweit versuchen Regierungen, die Geburtenrate durch Anreize zu steigern – von Steuererleichterungen über Geburtenprämien bis hin zu staatlich organisierten Heiratsveranstaltungen. Doch der Erfolg bleibt meist aus. «Diese Programme helfen nur, wenn überhaupt ein Kinderwunsch vorhanden ist. Wenn der fehlt, nützt auch ein Babybonus nichts», sagte Katja Rost.

In skandinavischen Ländern, wo Vereinbarkeit und Gleichstellung stark gefördert werden, sinkt die Geburtenrate dennoch weiter. Für Katja Rost ist klar: «Der Kinderwunsch ist nicht mehr selbstverständlich. Viele Menschen entscheiden sich bewusst dagegen – nicht aus Not, sondern aus Freiheit. Das ist eine Errungenschaft, auch wenn es die Gesellschaft vor Herausforderungen stellt.»

Es besteht Hoffnung auf Wandel
Trotz aller Schwierigkeiten sehen die Diskutierenden auch positive Entwicklungen. Katja Rost glaubt, dass sich der Trend wieder drehen könnte: «Gesellschaften verändern sich. Vielleicht wird Kinderhaben wieder modern – gerade, weil es so selten geworden ist.» Ein Kind bedeute Sinnstiftung und sei in Krisenzeiten eine Stütze. Gideon Sartorius zeigte sich ebenfalls optimistisch: «Reproduktive Freiheit ist ein grosser Gewinn. Heute gilt: Man kann Kinder haben – man muss aber nicht. Dass wir diese Wahl haben, ist eine Errungenschaft.»

Hier geht es zum Originalartikel der NZZ.

 

 

  • Barbara Künzle

    Barbara hat Psychologie an der Universität Zürich studiert und ihre Dissertation zum Thema "Shared Leadership in Anaesthesia Teams" in Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Zürich und der ETH Zürich geschrieben. Seit…

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