Es ist ein Match! Active Sourcing in Zeiten von KI

Active Sourcing mittels künstlicher Intelligenz funktioniert ein bisschen wie Match-Making auf Tinder — Algorithmen analysieren Profile, um herauszufinden, wer zusammenpasst. Aber nicht nur Suchalgorithmen, auch grosse Sprachmodelle wie ChatGPT können bei der aktiven Talentakquise helfen, sagt Christopher Leisinger von der Avenir Group.

Angenommen, Sie könnten eine Art Robo-Recruiter auf Talentsuche losschicken. Sobald Sie eine Stelle zu besetzen haben, stürzt sich dieser ins Internet und durchforstet mittels KI-gestütztem Crawling berufliche Netzwerke wie LinkedIn oder XING nach möglichen Kandidatinnen
und Kandidaten. Mehr noch: Ihr Robo-Recruiter ist so clever, dass er auf sämtlichen Plattformen nachschaut – auch auf Github zum Beispiel, wenn Sie eine IT-Fachkraft suchen. Der Bot berücksichtigt nicht nur Fähigkeiten und Berufserfahrung, sondern auch Softfaktoren, um einzuschätzen, ob die Person zur Firmenkultur passt. Lebensläufe, Kommentare in den sozialen Medien, Klickverhalten: Ihr Robo-Recruiter bezieht alles mit ein, um für Sie die beste Wahl zu treffen. Basierend auf den gesammelten Daten schlussfolgert er sogar, wie viel Lohn Ihr Wunschkandidat verlangen könnte, und
vergleicht diesen mit dem Budget für die Stelle. Dabei handelt er völlig «unbiased», also unvoreingenommen in Bezug auf Geschlecht, Herkunft oder Alter. Und sorgt auch gleich für den Datenschutz – dies als Sahnehäubchen obendrauf.

Auch wenn der Robo-Recruiter so (noch) nicht existiert: «Technisch ist schon vieles möglich», sagt Christopher Leisinger, HR-IT-Consultant und Mitverantwortlicher für die interne KI-Strategie bei der Avenir Group, einem Schweizer auf HRM spezialisierten Dienstleister. «LinkedIn Recruiter
etwa arbeitet seit Jahren mit einem optimierten Suchalgorithmus.» Das Tool berücksichtigt unter anderem das Klickverhalten der User und passt darauf basierend die Suchresultate individuell an. Das heisst, zwei Personen, die dasselbe Stichwort eingeben (z.B. «Data Scientist»), können völlig unterschiedliche Ergebnisse erhalten. Das ist intelligent und nützlich; anders wären eine effiziente Suche und sinnvolle Matches bei knapp einer Milliarde Mitgliedern kaum möglich.

Künstlich und human – matcht das?

Dennoch geniesst künstliche Intelligenz kein besonders hohes Ansehen in «Human Resources», wie Raven51 schreibt, eine deutsche Personalmarketing-Firma. Deren Umfrage bei deutschen Unternehmen hat ergeben: Viele Personaler behandelten das Thema mit Skepsis. In Zahlen äussert sich das wie folgt:
• 25% der befragten Unternehmen sehen gewisse Chancen, das eigene Recruiting mit KI-Unterstützung effektiver zu gestalten.
• 20,31% äusserten Vorbehalte.
• In der Praxis eingesetzt werde KI noch kaum: Gerade einmal 6,25% der Unternehmen nutzen sie fürs Recruiting.

Noch traut man der künstlichen Intelligenz nicht über den Weg. Was, wenn KI-Systeme bei der Bewerberauswahl die falschen Schlussfolgerungen ziehen? Was, wenn sie diskriminierende Entscheidungen treffen, wenn man ihnen freie Hand lässt?

Aus den Schweizer HR-Abteilungen klingt es laut Christopher Leisinger ähnlich. Als Mitautor der Studie «Digital HR 2024» der Avenir Group hat Leisinger HR-Professionals hierzulande zu künstlicher Intelligenz befragt. Die Resultate der Studie zeigen: Auch in der Schweiz besteht Aufholbedarf. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit und den Nutzen sei zwar vorhanden, so Leisinger, aber
• über 30% der Studienteilnehmer würden noch gar keine KI-Anwendungen in ihrem Arbeitsalltag einsetzen.
• Sage und schreibe 91% der Befragten seien der Ansicht, dass es noch an Verständnis für den optimalen Einsatz der Technologie fehle.

Leisinger beobachtet dabei einen Graben zwischen «unseren vielen KMU und den grossen Unternehmen». Die «Grossen» seien mit dem Thema KI weiter. Mediensprecher Kay Schubert bestätigt für die Zurich Insurance Group: «Zurich setzt KI in Talent-Acquisition-Prozessen ein und befindet sich derzeit in einer entsprechenden Lernkurve.» KI-gestütztes Active Sourcing habe das Potenzial, die oft manuelle, zeitaufwendige und ineffiziente
Suche nach geeigneten Talenten zu erleichtern. «Die KI hilft, schneller und präziser Talente zu identifizieren, die unseren Anforderungen entsprechen.» Dies erhöhe die Recruitingeffizienz und erlaube Zurich, in einem kompetitiven Markt die besten Talente zu gewinnen, so Schubert.

Im Rekrutierungsalltag sieht die Zurich eine grosse Bandbreite an Möglichkeiten: «Beispiele sind auf Basis von ChatGPT generierte Inseratevorschläge, Zusammenfassungen, inwieweit Bewerber zum Rollenanforderungsprofil passen, oder das Vorschlagen von KI-gesteuerten
Stelleninseraten aufgrund des Bewerbenden-Klickverhaltens auf einer Karriereseite.» Aber auch für die Anwendung firmenintern sehe man Potenzial
– so zum Beispiel zur Förderung der Weiterentwicklung der eigenen Belegschaft mittels «KI-gestützter Hinweise, welche Mitarbeitenden im Rahmen
einer Rekrutierung optimale Fähigkeiten für einen nächsten Karriereschritt mitbringen».

Generative KI als Assistentin bei der Rekrutierung

Wer sich bei Stelleninseraten und der weiteren schriftlichen Kommunikation helfen lassen möchte, kann zum Beispiel im Linkedin Recruiter mithilfe von generativer KI Texte erstellen; auch bekannt als «Augmented Writing», wie Christopher Leisinger erklärt. «Die im Unternehmensprofil
oder in einer Stellenbeschreibung hinterlegten Informationen lassen sich nutzen, um massgeschneiderte Texte zu generieren.» Die KI helfe auch, den
zielgruppenspezifischen Ton zu treffen – etwa, wenn man sich um die Generation Z bemühe. «Unterschiedliche Generationen und Geschlechter reagieren auf unterschiedliche sprachliche Trigger», erklärt Leisinger. «KI kann helfen, Texte so zu formulieren, dass sich die Menschen eher angesprochen fühlen.» Dabei ist die KI klar im Vorteil: Während wir Menschen ein begrenztes Repertoire an Formulierungen besitzen, können grosse Sprachmodelle einen Text nahezu unbeschränkt variieren. Wer schon einmal ChatGPT eine Stellenanzeige im Stil eines Songs von «Stiller Has» hat formulieren lassen, weiss, wovon die Rede ist.

Um Texte zu optimieren, lassen sich integrierte Lösungen wie bei LinkedIn, aber auch Stand-alone-Anwendungen wie ChatGPT, Gemini oder Claude einsetzen; sie alle basieren auf grossen Sprachmodellen. Es gibt zudem Tools, die extra für das Recruiting und die Unternehmenskommunikation
entwickelt wurden. Christopher Leisinger empfiehlt «Textio»: «Dort kann man eigene Texte von der KI analysieren lassen», erklärt er. «Das Tool
zeigt einem dann, ob sich von einer Stellenanzeige eher Frauen oder Männer angesprochen fühlen, gibt Empfehlungen für inklusivere Formulierungen oder hebt problematische Stellen hervor.»

Kleine Brötchen backen

Der Nutzen von KI im Active Sourcing liegt auf der Hand: Ob grosses Sprachmodell oder Suchalgorithmus, künstliche Intelligenz vergrössert die Möglichkeiten und verringert den kognitiven und sonstigen Aufwand. Man erhält Zugriff auf eine breitere Wissensbasis und findet seine Kandidaten schneller und effizienter. Auch die Qualität der Textkommunikation lässt sich damit steigern. Doch nicht trotz, sondern gerade wegen
der vielen Möglichkeiten sei es für viele KMU schwierig, das Thema KI in der Personalbeschaffung anzugehen, sagt Christopher Leisinger. «Viele Unternehmen sehen den Riesenbrocken ‹Künstliche Intelligenz› vor sich und wissen nicht, wo anfangen.» Wie soll man das Thema also angehen, ohne sich und seine Organisation zu überfordern? «Am Anfang kleine Brötchen backen», rät Leisinger. Erste Erfahrungen machen, etwa, indem man Kandidaten mittels generativer KI anschreibt. So lerne man, wie solche Systeme ticken – anschliessend könne man die Sache ausweiten. Er und seine
Kollegen haben einen Vier-Punkte-Plan entwickelt, der ein schrittweises Herangehen erlaubt.

1 – «Discover»: Die HR-Mitarbeitenden probieren eine KI-Anwendung in einem geschützten Rahmen aus. Parallel dazu werden sie geschult und erhalten ein grundlegendes Technologieverständnis sowie Inspiration und Hilfe. Dabei wird die Organisation auch hinsichtlich rechtlicher und ethischer Fragen sensibilisiert.

2 – «Prepare»: Zusammen mit der IT und allenfalls der Rechtsabteilung werden Rahmenbedingungen und die Infrastruktur geschaffen, damit KI effektiv und rechtskonform eingesetzt werden kann. Dabei geht es nicht nur um Richtlinien und Technik, sondern auch um die Frage, ob und welche unternehmensinternen Daten der KI zur Verfügung gestellt werden sollen respektive dürfen.

3 – «Explore»: Im nun ausreichend geschützten Rahmen priorisiert die HR-Organisation ihre KI-Anwendungsfälle, setzt die Technologie gezielt ein, überprüft die Ergebnisse und streut das Gelernte in der Organisation.

4 – «Perform»: KI wird integrierter Teil der HR-Organisation, erzeugt Nutzen, wird über Kennzahlen sichtbar gemacht. So wird der kontinuierliche Verbesserungsprozess verankert.

Auch Kay Schubert von der Zurich sagt: «Unternehmen müssen aus Recruitingsicht zunächst die technischen und regulatorischen, insbesondere die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen für die KI-Nutzung sicherstellen.» Um das ökonomische Potenzial von künstlicher Intelligenz auszuschöpfen, sollte zudem «geeignete KI-Software implementiert und in bestehende HR-IT-Lösungen integriert » sein. Gleichzeitig ist es für die Zurich wichtig, dass Mensch und Maschine zusammenarbeiten. «Menschliche Intuition und das Verständnis der zwischenmenschlichen Dynamik bei der Eignungsabklärung sieht Zurich in absehbarer Zeit auch durch KI nicht als substituierbar», so Schubert.

Was die KI zusammenführt, soll der Mensch nicht trennen. Oder?

Trotz der vielen Möglichkeiten und Chancen – es gibt auch Risiken. Die mögliche Diskriminierung durch algorithmische Verzerrungen, sogenannte Biases, bleibt ein zentrales Problem. Ein bekanntes Beispiel ist der Fall von Amazon, dessen KI-System zur Lebenslaufanalyse 2018 abgeschaltet wurde, weil es systematisch männliche Bewerber bevorzugt hatte – ein Bias, historisch bedingt aufgrund der (notabene unternehmenseigenen)
Trainingsdaten. Zudem können Systeme falsche Schlussfolgerungen ziehen oder schlicht nicht wie erwartet funktionieren; der sogenannten prädiktiven KI etwa, die voraussagen soll, wie gut jemand in seinem Job performen wird, sollte man mit Vorsicht begegnen. Doch die grösste Herausforderung könnte menschlicher Natur sein: das blinde Vertrauen in die Technologie. Wenn Recruiter sich nur noch auf Algorithmen verlassen und keine kritische Prüfung der Ergebnisse mehr vornehmen, könnte der oder die Falsche eingestellt werden. «Wer trägt dann die Verantwortung?», gibt Christopher Leisinger zu bedenken. «Der Recruiter oder die KI?» Letztlich könnte der Einsatz von KI auch den Bewerbungsprozess insgesamt infrage stellen, findet der Experte: «Wenn Plattformen wie LinkedIn Unternehmen helfen, ihre Stellenanzeigen zu verbessern, während Stellensuchende damit ihre Profile optimieren: Ist das dann noch gutes Matching?»

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  • Christopher Leisinger

    Christopher hat an der Universität Basel Wirtschaftswissenschaften mit der Vertiefung Human Resources and Organizations studiert und in seiner Masterarbeit den Zusammenhang von Persönlichkeit, Wandelresistenz und Arbeitszufriedenheit untersucht. Bei der Avenir…

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