Ungeduld als Schwäche – was steckt dahinter?

Im Bewerbungsprozess ist Ungeduld eine der am häufigsten genannten Schwächen. Nachfolgend wird aufgezeigt, welche Rückschlüsse sich daraus ziehen lassen.

Was würden Sie auf die Frage antworten, worin Sie Ihre wesentlichen Stärken und Schwächen sehen? In einem Bewerbungsverfahren werden Sie ein aussagekräftiges, tendenziell jedoch positives Bild von sich vermitteln wollen. Daher überlegen Sie sich wohl sehr genau, welche Schwächen Sie preisgeben. Am besten – so könnte man denken – wäre es wohl, einen Makel einzuräumen, der letztlich eher eine Stärke ist.

Die Fähigkeit zur Selbstreflexion hat besonders für die Eignung als Führungskraft einen wichtigen Stellenwert. Relevant ist, ob Bewerber ihre persönlichen Stärken und Schwächen realistisch einschätzen und ein Lernprozess stattgefunden hat. Daher wird diese Fähigkeit auch im Bewerbungsprozess und in einem nachfolgenden Assessmentverfahren in der Regel direkt oder indirekt thematisiert. Ein Entwicklungsfeld, das auffällig oft genannt wird, ist Ungeduld. Wird es als persönliche Schwäche genannt, weckt dies bei erfahrenen Interviewenden mitunter ein müdes Lächeln, wenn nicht gar eine Spur dieser proklamierten Ungeduld. Möchte sich der Bewerber allenfalls einer kritischen Selbstreflexion entziehen? Fehlende Geduld als Schwäche erscheint als Allgemeinplatz, mit dem vielleicht sogar eher Positives wie Vorwärtsdrang, Drive und Initiative zum Ausdruck gebracht werden will.

Kleine Schwäche oder gut getarnte Stärke?

Warum Ungeduld so oft genannt wird, kann nur vermutet werden. Wie bereits erwähnt, taugt sie zum einen gut als kleine Schwäche getarnte Stärke. Die Eigenschaft «ungeduldig» entspricht dem Stereotyp eines dynamischen Machers, der die Dinge vorantreibt, Widerstände überwindet und einen klaren Zielfokus hat. Ungeduld entspricht zudem dem Zeitgeist; um konkurrenzfähig zu bleiben, ist eine stete Bewegung und Weiterentwicklung erforderlich, Tempo und damit Effizienz sind zentrale Parameter.

Ungeduld hat viele mögliche Facetten und es ist interessant und lohnend, sich damit vertieft auseinanderzusetzen. Welche Persönlichkeitseigenschaften oder Verhaltenstendenzen können dahinterstecken? Welches Bild von sich möchte jemand allenfalls wecken, wenn er sich als ungeduldig beschreibt? Einige Gedanken dazu.

Ungeduldig zu sein, bringt zum Ausdruck, dass es jemandem nicht schnell genug geht oder dass Erwartungen an den Inhalt oder die Qualität des Erreichten nicht erfüllt werden. Ungeduldig kann man mit sich selbst oder mit anderen sein. Es geht somit um eine Diskrepanz in der Bewertung zwischen der wahrgenommenen Ist-Situation und den Erwartungen. Ungeduld beschreibt das Gefühl einer inneren Spannung; sie kann gegen aussen sichtbar sein oder nicht, eine Verhaltensweise nach sich ziehen oder auch nicht.

Die Erfahrung in der Praxis zeigt, dass Ungeduld auf eine mangelnde Klarheit und Verständlichkeit in der eigenen Kommunikation hinweisen kann. Eine Person wird beispielsweise ungeduldig, wenn es ihr nicht gelingt, andere zu überzeugen, oder sie die Beweggründe von anderen nicht versteht («Wenn ich etwas mehrmals sagen muss und es wird doch nicht gemacht – dann werde ich ungeduldig.»). Die Vermutung, dass das Gefühl von Ungeduld effektiv auf eine Schwäche in der kommunikativen Klarheit zurückzuführen ist, sollte überprüft werden. So kann die Fähigkeit, andere zu überzeugen oder die Perspektive zu wechseln, mit zusätzlichen Instrumenten wie beispielsweise Rollenspielen oder Persönlichkeitsfragebogen evaluiert werden.

Ungeduld ist nicht gleich Ungeduld

Nennt jemand Ungeduld als Schwäche, ist es ratsam, nachzufragen, wie sich diese manifestiert. Gut möglich, dass sie als innere Anspannung, als Druck, vielleicht auch als Gefühl der Unzufriedenheit empfunden wird und von aussen kaum wahrnehmbar ist. Hier ginge es dann vor allem darum, wie gut jemand mit Belastungen zurechtkommt und Spannungen abbauen kann. Ungeduld kann sich jedoch auch direkt im Verhalten äussern. Denkbar ist beispielsweise, dass die betreffende Person andere unterbricht, mit eigenen Lösungen kommt, ohne Inputs von anderen aufzunehmen, und sich das Umfeld überfahren fühlt. Oder die Ungeduld führt zu einem wenig planvollen Vorgehen, Risiken werden übersehen, Aufgabenstellungen unsorgfältig bearbeitet. Auch hier muss gezielt nachgefragt werden. Entsprechende Hypothesen werden im Assessment mit verschiedenen Instrumenten wie Rollenspielen, Leistungsverfahren oder mit weiterführenden Fragen im Interview geprüft.

Um zu klären, was der Bewerber oder die Bewerberin unter der Schwäche «Ungeduld» versteht, sollte nachgefragt werden, was seines/ihres Erachtens die negativen Auswirkungen davon sind. Bei einer gelungenen Selbstreflexion dürfte es der betreffenden Person leichtfallen, mögliche Entwicklungsrichtungen zu skizzieren. Das Gegenteil von Ungeduld bedeutet beispielsweise, dass jemand gelassen bleibt, Ruhe bewahrt und allenfalls auch, dass er oder sie die eigenen Emotionen kontrollieren kann. Geduldig mit anderen zu sein, könnte heissen, Vertrauen zu schenken, anderen ihr eigenes Tempo zuzugestehen oder von Zeit zu Zeit Unterstützung zu bieten, ohne sich zu sehr einzumischen.

Fazit: Ungeduld ist nicht gleich Ungeduld. Ungeduld als eine der am häufigsten genannten Schwächen im Bewerbungsinterview oder Assessment wirkt zwar etwas beliebig und wenig aussagekräftig. Mittels geschickter Nachfrage und gezielt eingesetzter Instrumente können jedoch wichtige Anhaltspunkte für Persönlichkeitszüge und Verhaltenstendenzen von Bewerbenden erfasst werden.