Psychologische Sicherheit — Einfluss der Führungskraft

Psychologische Sicherheit beschreibt eine Arbeitsatmosphäre in einem Team, bei der sich die einzelnen Personen sowohl wohlfühlen als auch spezielle Leistungen erbringen. Sie kann von der Führungskraft nicht verordnet, aber gefördert werden. Dieser Artikel beantwortet die Frage, welche Kompetenzen dazu nötig sind und wie man diese in einem Assessment erkennt.

Wer kennt das nicht? In einer Sitzung bleiben gute Vorschläge unerwähnt, weil einige Personen Angst haben, sich zu blamieren. Oder ein Projekt droht aus dem Ruder zu laufen, es will aber niemand die Verantwortung übernehmen und auf die kritischen Entwicklungen hinweisen. Stattdessen werden Fehler vertuscht oder anderen in die Schuhe geschoben. Denn im Alltag möchte häufig niemand die oberflächliche Harmonie gefährden, indem er oder sie etwa unangenehme Themen oder gar störendes Verhalten von anderen direkt anspricht. Ausserdem werden riskante Entscheide vermieden oder potenziell nicht opportune Themen tabuisiert, wichtige Informationen zurückgehalten oder politische Spiele zwecks Machterhalt getrieben. All diese zwischenmenschlichen Themen kosten Geld und unnötige Energie. Und sie verhindern meistens bessere Lösungen oder das Ausprobieren neuer Ansätze.

Was ist psychologische Sicherheit?

Sollen derartige Vorkommnisse vermieden werden, bedarf es einer Atmosphäre, die durch «psychologische Sicherheit» geprägt ist.1 Biemann & Weckmüller definieren diese allgemein als Glaube einer Person oder einer Gruppe von Personen, dass Risiken innerhalb eines Teams oder einer Organisation ohne negative Konsequenzen eingegangen werden können.2 Kann man etwas ausprobieren, ohne sich dabei unsicher zu fühlen? Darf man sich selbst sein – auch einmal verletzlich sein? Psychologische Sicherheit beschreibt den Glauben an eine Gruppennorm, die sich auf das ganze Team bezieht. Beim verwandten Konzept des Vertrauens stehen dagegen einzelne Personen im Mittelpunkt. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei psychologischer Sicherheit um ein recht diverses Konzept, das unterschiedliche Aspekte umfasst. In den entsprechenden Fragebogen werden etwa die folgenden Aspekte erfasst: Können im Team auch Probleme und schwierige Themen angesprochen werden? Befürchtet man keine Bestrafung, wenn man einen Fehler begeht? Wird mit Andersartigkeit offen und konstruktiv umgegangen? Wird das Wissen im Team geteilt? Vertraut man sich gegenseitig?

Psychologische Sicherheit und Leistung

Obwohl nicht neu, hat die psychologische Sicherheit in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erhalten.1,3 Dies nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse des Projekts Aristoteles von Google. Um die Merkmale von High-Performing-Teams zu identifizieren, wurden dabei die Leistungen aller internen Teams gemessen und verglichen. Es stellte sich unter anderem heraus, dass die Leistungen und Qualifikationen der verschiedenen Teammitglieder weniger wichtig sind als teambezogene Faktoren. Dabei wurden fünf wesentliche Merkmale von High-Performing-Teams entdeckt: 1. Psychologische Sicherheit, 2. Verlässlichkeit bei der Auftragserledigung, 3. Struktur und Klarheit (Ziele, Rollenverteilung etc.), 4. Sinn (Bedeutung, die der eigenen Arbeit zugewiesen wird), 5. wahrgenommener Einfluss der Teammitglieder. Unter den genannten Aspekten handelt es sich bei der psychologischen Sicherheit um den wichtigsten. Besonders zentral ist die Kombination mit Empowerment respektive einer Atmosphäre, in der die Mitarbeitenden viel Verantwortung übernehmen. Das Team benötigt also ein gewisses Ambitionsniveau und das Bedürfnis, sich freiwillig für eine gute Leistung einzusetzen. Besteht eine hohe Bereitschaft, sich zu engagieren (Verantwortlichkeit), und herrscht psychologische Sicherheit, befindet sich ein Team in der besonders produktiven «Lernzone». Dies bedeutet, dass es nicht nur seine Aufgaben potenziell schneller und besser erledigt, sondern auch als Team ständig dazulernt. Entscheidend ist, dass die Mitglieder eines Top-Teams nicht nur möglichst gute Arbeit leisten, sondern laufend besser werden und ständig dazulernen wollen.

Unter den Teammitgliedern herrscht ein starkes gegenseitiges Verständnis und ein so hohes Vertrauen, dass man sich mittels ehrlichen und konstruktiv-kritischen Feedbacks gegenseitig ermutigt, in jeder Hinsicht laufend kompetenter zu werden und Risiken einzugehen. Mit psychologischer Sicherheit ausdrücklich nicht gemeint ist eine oberflächliche Wohlfühlatmosphäre, in der alle immer nett zueinander sind, die kritischen Themen aber nicht ausgesprochen und keine Risiken eingegangen werden. In einer solchen «Komfortzone» ist keine überdurchschnittliche Produktivität zu erwarten. Ausserdem finden keine substanziellen Lernprozesse statt, weil Lernen unter anderem auf Feedback basiert und eher durch Fehler als durch ein übervorsichtiges Vorgehen gefördert wird. Fehlt psychologische Sicherheit, aber besteht Druck, bewegt sich ein Team in der «Angstzone». Auch unter Druck können zwar eine Zeit lang gute Ergebnisse erbracht werden, es finden aufgrund des defensiven Verhaltens der Teammitglieder aber keine echten Lernprozesse statt. Ausserdem sind längerfristig eine hohe Fluktuation und stressbedingte Ausfälle zu erwarten. Existiert weder psychologische Sicherheit noch ein Leistungsanspruch, entsteht ein Klima der Apathie, in dem etwa Boreouts auftreten können.

Der Einfluss der Führungskräfte

Obwohl psychologische Sicherheit ein Gruppenphänomen ist, spielen die Führungskräfte eine grosse Rolle: Sie können ihre Entstehung hemmen oder fördern. Ihr Umgang mit Fehlern, ihre Authentizität und ihr Vermögen, eigene Unzulänglichkeiten oder Nichtwissen zuzugeben, beeinflussen die Teamkultur. Es liegt auf der Hand, dass ein abwertendes oder misstrauisches Führungsverhalten lähmt und ein übervorsichtiges Verhalten bewirkt.
Zentral sind eine wohlwollende Haltung zum Team und das Fördern der charakteristischen Merkmale der gewünschten Teamatmosphäre. Goller & Laufer nennen drei Bereiche, die bezüglich Leadership eine Schlüsselrolle spielen.

1. Vorbild sein: Das gewünschte Verhalten konsequent vorleben (z.B. eigene Fehler zugeben, sich entschuldigen, eigene Grenzen offenbaren). Ebenfalls wichtig sind ein partnerschaftlicher Umgang, die Bereitschaft, sich selbst zu öffnen sowie das Vermögen, einen persönlichen Kontakt herzustellen.

2. Arbeit als Lernaufgabe definieren: Hier geht es darum, Neugier zu zeigen und zu wecken, Offenheit für neue Lösungsansätze zu demonstrieren sowie gemeinsame Lern- und Entwicklungsprozesse zu gestalten. Besonders effektiv sind Reflexionsgefässe, zum Beispiel Retrospektiven im Scrum.

3. Andere zur Zusammenarbeit inspirieren: Besonders wichtig sind das Fördern der Kooperationsfähigkeit über die Integration im aktuellen Team hinaus sowie ein inklusiver Führungsstil. Konkret stehen Mitwirkung fördern, zuhören und verstehen im Mittelpunkt.

Aus der Sicht der Management-Diagnostik ergeben sich im Rahmen von Assessments zusammenfassend die folgenden Beobachtungsschwerpunkte: Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit; authentisches und unverstelltes Auftreten; Neugier und Offenheit für neue Erfahrungen; ganzheitliche, fachliche und persönliche Lernbereitschaft; gutes Verständnis der eigenen Stärken und vor allem Grenzen; Selbstvertrauen (keine Ängstlichkeit), Kritikfähigkeit und -bereitschaft (inkl. Fehler zugeben können); kooperative und partnerschaftliche Grundhaltung; Gesprächsbereitschaft und Zuhörfähigkeit; Perspektivenwechsel, Konflikt- und Moderationsfähigkeit; wohlwollende und ermutigende Grundhaltung; integrative Fähigkeiten; Vertrauensbereitschaft.

Konkretes Führungsverhalten: Mitarbeitende ermuntern und befähigen ….
• sie selbst zu sein und sich zu öffnen
• etwaige Hemmungen zu überwinden und etwas zu riskieren
• Fehler einzugestehen
• eigenes Wissen und Informationen zu teilen, selbstständig zu handeln und Verantwortung zu übernehmen
• Unterschiede als Chance zu begreifen und sich konstruktiv damit auseinanderzusetzen
• kritische/heikle Themen anzusprechen
• anderen ehrliches Feedback zu geben, gemeinsame Reflexionsprozesse zu etablieren
• sich gegenseitig zu vertrauen und etwaige Fehler oder Schwächen nicht auszunutzen
• Konflikte unter sich zu lösen
• sich gegenseitig zu unterstützen

Selbstverständlich funktioniert das alles nur, wenn die Führungskraft als Vorbild agiert, hinter dem Team steht, den Mitarbeitenden angemessene Handlungsspielräume zugesteht (Empowerment) sowie laufend Teamentwicklungs- und Lernprozesse anstösst und bei Problemen Unterstützung bietet. Besonders zentral ist auch, dass Worte und Taten übereinstimmen. Eine geschickte Führungskraft vermag auch unter schwierigen Bedingungen eine Atmosphäre der psychologischen Sicherheit herzustellen, unter Umständen kann sich diese aber auch von selbst entwickeln.

PDF herunterladen

Original-Artikel

Ausgabe: November 2022
  • Thomas Frehner

    Nach dem Studium der Psychologie und Betriebswirtschaft an der Universität Zürich war Thomas zunächst im Bereich der Mitarbeiterforschung tätig. Seit 2004 arbeitet er schwerpunktmässig als Assessmentspezialist, Projektleiter und Coach. Bei…

    Profil ansehen