Diversität – Chance und Herausforderung
Diversität als Faktum der Vielfalt der Merkmale und Identitäten von Menschen lässt sich in sichtbare bzw. leicht zu identifizierende Merkmale (Surface Level Diversity, SLD) und nicht sichtbare bzw. tieferliegende Merkmale (Deep Level Diversity, DLD) unterteilen. Surface Level Diversity Merkmale umfassen beispielsweise Faktoren wie Geschlecht, Alter, Ethnie, aber auch Bildungslevel oder Dauer der Unternehmenszugehörigkeit, während Deep Level Diversity insbesondere Persönlichkeit, Einstellungen, Werteverständnis, Aufgabenwissen oder Kommunikationsfähigkeiten umfasst.
Dabei kann Diversität (SLD & DLD) insofern eine Chance für Organisationen bedeuten, da sie sich signifikant positiv auf Faktoren wie Performance, Kreativität und Zusammenhalt von Teams auswirken kann. Doch dem stehen empirische Erkenntnisse zu negativen Effekten auf die genannten Faktoren entgegen. Dementsprechend wird Diversität in der aktuellen Forschungsliteratur als zweischneidiges, hochkomplexes Schwert beurteilt, welches nur in Teilen ausreichend erforscht ist, um klare Aussagen über konkrete Auswirkungen in Organisationen und Teams treffen zu können. Die Komplexität von Diversität mit ihren verschiedenen Surface- und Deep-Level-Dimensionen erschwert es zusätzlich, singuläre Ansätze für den Umgang mit dem Konstrukt zu definieren.
Inklusion und psychologische Sicherheit
Für die Nutzung des Diversitätspotenzials braucht es somit Ansätze, die die möglichen negativen Effekte von Diversität auffangen und die positiven Effekte fördern. Gleichzeitig benötigt es Ansätze, die der Komplexität von Diversität gerecht werden und sich nicht auf einzelne Diversitätsmerkmale fokussieren, sondern auf Diversität als Gesamtheit.
In diesem Zuge rücken die Konstrukte Inklusion und psychologische Sicherheit für Organisationen in den Fokus. Inklusion wird als Kontext definiert, „in dem alle Individuen, unabhängig ihres Hintergrundes, ihre Identitäten und Kompetenzen frei entfalten können und gleichzeitig als wertvolle, individuelle Mitglieder einer definierten Gruppe (z.B. Organisation oder Team) als Kollektiv betrachtet werden“. Damit orientiert sich die in diesem Beitrag verwendete Definition an der des angloamerikanischen Raumes.
Das Konstrukt der psychologischen Sicherheit wurde massgeblich durch Amy Edmondson geprägt und lässt sich als „gemeinsame Überzeugung von Mitgliedern einer Gruppe“ beschreiben, „dass die Gruppe sicher für das Eingehen von zwischenmenschlichen Risiken ist“. Besteht ein hohes Mass an psychologischer Sicherheit, so herrscht unter den Mitgliedern einer definierten Gruppe ein Gefühl der Zuversicht, dass sie sich untereinander nicht dafür tadeln, abweisen oder bestrafen, ihre ehrliche Meinung zu äußern. Weiterhin weisen die Mitglieder einer Gruppe positive Intentionen untereinander auf.
Das Zusammenspiel der Konstrukte
Wird nun das Zusammenspiel von Diversität, Inklusion und psychologischer Sicherheit betrachtet, kristallisiert sich ein Ansatz heraus, wie das Diversitätspotenzial in Organisationen produktiv genutzt und negative Diversitätseffekte minimiert werden können. In der vorhandenen Forschungsliteratur existieren zu SLD und DLD empirische Untersuchungen, die darlegen, dass ein Kontext der Inklusion in diversen Gruppen positive Effekte auf Faktoren wie Performance, Kreativität oder Fluktuation entfalten kann. Das Diversitätspotenzial wird nutzbar.
Psychologische Sicherheit kann weiterhin negative Effekte von Diversität auf den Faktor Teamperformance abfedern und entfaltet direkte positive Effekte auf die Entstehung einer Kultur des Lernens und Performance von Teams. Hervorzuheben ist außerdem, dass in der Forschung theoretisiert wird, psychologische Sicherheit könne auch für Inklusion förderlich sein, indem eine Atmosphäre des intensiveren und positiveren Miteinanders erschaffen wird. Es fehlt jedoch an konkreten empirischen Befunden.
Damit zeichnet sich ab, dass für die Nutzung des Diversitätspotenzials in Organisationen ein Kontext der Inklusion essenziell ist. Es gilt zu verstehen, wie Inklusion unter gegebener Diversität erreicht werden kann. Gleichzeitig ist die genaue Rolle von psychologischer Sicherheit zu klären, um schlussendlich einen Ansatz aufzuzeigen, wie das Potenzial von Diversität, unabhängig von spezifischen Diversitätsmerkmalen, in Organisationen genutzt werden kann.
Literatur-Review und qualitative Studie – ein Modell der Zusammenhänge
Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, wurde auf Basis bestehender Forschung und einer qualitativen Interviewstudie ein Modell der Zusammenhänge zwischen Diversität, Inklusion und psychologischer Sicherheit erarbeitet. Für die qualitative Studie wurden 17 Expert*innen aus Praxis und Forschung (Fachgebiete HRM, A&O Psychologie & Soziologie) im Zeitraum März und April 2024 befragt. Die Auswertung erfolgte unter Anwendung einer inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz.
Bei der Betrachtung der Beziehung Diversität (SLD & DLD) und Inklusion wird anhand der qualitativen Studie festgehalten, dass weniger das Maß der Diversität in definierten Gruppen als mehr die Identifizierbarkeit von Mehrheits- und Minderheitsgruppen entscheidend ist. Kann in einer definierten Gruppe bzgl. spezifischer Diversitätsmerkmale eine klare Minderheitsgruppe identifiziert werden, so ist für diese ein geringeres Maß an Inklusion zu erwarten. Angehörige dieser Minderheitsgruppe werden sich demnach weniger bzgl. Identitäten und Potenzial entfalten als Angehörige der Mehrheitsgruppe. Denn durch die Wahrnehmung als Minderheit entgegen einer Mehrheit entsteht eine Unsicherheit als Hemmnis der Entfaltung. Weiterhin sind gemäß der qualitativen Studie exklusive Tendenzen der Mehrheitsgruppe gegenüber der Minderheitsgruppe erwartbar, bewusst und unbewusst.
Wird nun psychologische Sicherheit als moderierender Faktor der Beziehung Diversität (SLD & DLD) Inklusion hinzugezogen, kann anhand erster Hinweise aus der existierenden Forschung ein positiver Effekt abgeleitet werden. Demnach schafft psychologische Sicherheit in diversen Gruppen (SLD & DLD) eine Atmosphäre, in der es Mitgliedern einer Gruppe leichter fällt, ihr individuelles Wissen und Perspektiven offen zu kommunizieren und eine offene Grundhaltung einzunehmen.
Bezüglich dieser Atmosphäre können aus der Interviewstudie tiefergehende Informationen gewonnen werden. Die beschriebene Atmosphäre der psychologischen Sicherheit vermittelt den Mitgliedern einer Gruppe das Sicherheitsgefühl, offen reden zu können und ihre Meinungen einbringen zu dürfen. Und das unabhängig ihrer Diversitätsmerkmale (SLD & DLD). Vielmehr verliert Diversität in einem Kontext hoher psychologischer Sicherheit an Relevanz, bzw. Unterschiedlichkeiten werden als wertvoll wahrgenommen. Diversität verliert an Einfluss auf die Interaktionen, auf die Art und Weise, wie sich Menschen in einer Gruppe verhalten und wie auf das Verhalten anderer reagiert wird.
Damit wird in der aktuellen Forschung und in der Interviewstudie eine Atmosphäre beschrieben, die mit dem nicht wertenden, positiven Charakter von psychologischer Sicherheit nach Amy Edmondson übereinstimmt, was die Relevanz der Ergebnisse betont.
Dazu hebt eine Interviewpartnerin explizit hervor: „wenn psychologische Sicherheit herrscht, haben Mitglieder einer Gruppe die Sicherheit (…), dass du so sein kannst wie du bist“. Weiter führt sie aus: „und das fördert ja dann auch wieder das Gefühl von Inklusion“, womit eine passende Überleitung entsteht. Denn in den Ergebnissen der Interviewstudie hat sich gezeigt, dass psychologische Sicherheit eine Voraussetzung für die Entstehung wirklicher Inklusion in sozialen Gruppen ist.
Demnach wird psychologische Sicherheit benötigt, damit die Mitglieder einer Gruppe das Gefühl entwickeln, ein wertvoller, individueller Teil eines sozialen Kollektivs zu sein. Und, um im nächsten Schritt Identitäten und Potenzial möglichst vollständig entfalten zu können. Psychologische Sicherheit gibt Individuen in Gruppen erst die Sicherheit, sich öffnen und entfalten zu können. Dies ist von besonderer Relevanz bzgl. DLD. Denn diese Merkmale sind nicht ad hoc identifizierbar, sondern müssen durch Individuen aktiv offengelegt werden. Da es sich hier um sensible Themen wie die sexuelle Identität oder das Wertegefüge von Menschen handelt, ist psychologische Sicherheit unabdingbar für eine möglichst vollständige Entfaltung von Identität und Potenzial und somit für Inklusion.
Psychologische Sicherheit ist also eine Brücke zwischen dem Faktum Diversität (SLD & DLD) und Inklusion als zu erreichender Status. Damit ist das Konstrukt der psychologischen Sicherheit essenziell, um das Diversitätspotenzial nutzbar zu machen und mögliche negative Effekte von Diversität zu reduzieren.
Bedeutung für die Praxis
Für die Praxis sollte deswegen die Frage im Fokus stehen, wie psychologische Sicherheit positiv beeinflusst werden kann. Die qualitative Interviewstudie und der Literatur-Review geben Aufschluss zu Stellhebeln auf Team- und Organisationsebene.
Teamgrösse und Interaktionen
Grundsätzlich ist es in Organisationen zu empfehlen, die Grösse von Teams eher klein zu halten. Diese Empfehlung steht im Zusammenhang mit (unconscious) Bias, die auf SLD-Merkmalen basieren. Führen diese zu negativen Konnotationen mit bestimmten SLD-Merkmalen, so ist eine Reduktion der psychologischen Sicherheit in Anwesenheit des spezifischen Merkmals denkbar, ohne aber die Person hinter dem SLD-Merkmal tiefergehend zu kennen und das Mass an psychologischer Sicherheit realistisch einschätzen zu können.
In kleineren Teams kann es nun, verglichen mit grösseren Teams, weniger Zeit benötigen, damit sich die Mitglieder durch Interaktionen über ihre SLD-Merkmale hinaus kennenlernen und so auf SLD-Merkmalen basierende Bias abauen. Vielmehr werden DLD-Merkmale der Teammitglieder durch die Interaktionen sichtbar, bzw. offengelegt, und bereiten eine nachhaltige, langfristige Basis für die Entstehung von psychologischer Sicherheit – jenseits erster, oberflächlicher evtl. verzerrter Eindrücke. Führungskräfte sollten deswegen insbesondere zu Anfang einer Teamformierung Interaktionen zwischen Teammitgliedern aktiv fördern. Dies kann z.B. erfolgen, indem Teamevents aktiv initiiert oder gemeinsame Ziele gesetzt werden.
Verbindende Teamidentität
Ein weiterer Ansatz, positiven Einfluss auf die psychologische Sicherheit in Teams zu nehmen, besteht darin, dass Führungskräfte eine Team-Identität fördern, die Unterschiedlichkeit und Vielfalt betont18. Zu diesem Zweck sollten Incentivierungen auf der Ebene des Teams gesetzt werden. Auf diese Weise wird den Teammitgliedern ein klarer Anreiz geboten, unabhängig von ihren Diversitätsmerkmalen gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten. Gleichzeitig wird ein sanfter Zwang ausgeübt, auf oberflächlichen Diversitätsmerkmalen basierende Bias als Hindernis der psychologischen Sicherheit zu überwinden und in die Arbeitsinteraktion zu kommen.
Inklusiver Führungsstil
Weiterhin können Führungskräfte Einfluss auf psychologische Sicherheit in Form eines inklusiven Führungsstils ausüben, mit dem sie eine positive, wertschätzende Einstellung zu Diversität vorleben und Teammitglieder aktiv zur Beteiligung einladen. In diesem Kontext sollte es gelten, die Beiträge aller Teammitglieder, unabhängig ihrer Hintergründe, wertschätzend aufzunehmen und die eigene Verletzlichkeit/Fehlbarkeit zu zeigen bzw. zu kommunizieren.
Mit der Anwendung eines solch inklusiven Führungsstils schaffen Führungskräfte eine Atmosphäre, in der Individuen unabhängig ihrer Hintergründe gesehen werden und dienen ihren Mitarbeiter*innen als Verhaltensvorbild. Dieser Führungsstil sollte durch klare Regeln für das Miteinander, die Kommunikation und das Feedback innerhalb des Teams untermauert werden, um eine wertschätzende Beteiligung aller Teammitglieder zu gleichen Teilen sicherzustellen. Bei Verstößen gegen diese Regeln oder bei Diskriminierungen ist es Aufgabe der Führungskraft, entschlossen einzugreifen, um die psychologische Sicherheit innerhalb eines Teams abzusichern und ihrer Vorbildfunktion gerecht zu werden.
Kultur der Akzeptanz und Offenheit
Damit psychologische Sicherheit in Organisationen weiterhin entstehen kann, benötigt es eine Kultur der Akzeptanz und Offenheit gegenüber Unterschiedlichkeiten. Akzeptanz und Offenheit gilt es seitens Führungskräfte und Organisation aktiv zu fördern. Zentral sind hierbei Trainings der Belegschaft, um Unconscious Bias als Hindernis psychologischer Sicherheit zu erkennen und abzubauen. Weiterhin ist das Bewusstsein für Diversität und ein adäquater Umgang mit dieser durch entsprechende Sensibilisierungsmaßnahmen zu fördern. Hinzu kommt ein aktives Bekenntnis zu Diversität in Form von Mission- und Visionsstatements, die in die Belegschaft kommuniziert werden und Wertschätzung gegenüber Diversität sowie die Wichtigkeit von psychologischer Sicherheit für die Organisation betonen.
Strukturelle Verankerung
Durch dieses Bündel an Massnahmen wird ein kultureller Rahmen für psychologische Sicherheit geschaffen, den es durch die Organisation strukturell abzusichern gilt. Hier sind entsprechende Verhaltenskodizes zu etablieren, die die durch Führungskräfte pro Team aufgestellten Regeln zur Absicherung von psychologischer Sicherheit auf organisationaler Ebene ergänzen. Weiterhin sollten insbesondere innerhalb der HR-Abteilungen spezifische Kompetenzen zur Förderung psychologischer Sicherheit aufgebaut werden und zentrale, anonyme Anlaufstellen für Diskriminierungsfälle etabliert werden.
Fazit
Insgesamt braucht es für eine nachhaltige Etablierung von psychologischer Sicherheit in Organisationen also keine singulären Anstrengungen, sondern multidimensionale Massnahmen. Denn die aufgeführten Stellhebel sind keinesfalls alleinstehend zu verstehen. Sie müssen kongruent sein und ineinandergreifen, um psychologische Sicherheit auf den verschiedenen Ebenen einer Organisation zu etablieren und zu stärken. Nur dann kann psychologische Sicherheit seiner identifizierten Brückenrolle zwischen Diversität und Inklusion gerecht werden und schlussendlich das Potenzial von Diversität in Organisationen nutzbar werden lassen. Denn nur wenn das einzelne Individuum durch einen Kontext der psychologischen Sicherheit sein Potenzial entfalten kann, kann auch eine Organisation ihr volles Potenzial entfalten.
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