Hintergrund und Datenerhebung
Die Arbeitswelt befindet sich in ständigem Wandel. Digitalisierung, der Fortschritt der künstlichen Intelligenz, der zunehmende Wettbewerb um Arbeitskräfte, sich verändernde Rollenbilder und neue Wertvorstellungen treiben diesen voran. Diese gesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich auch in der Führungskultur von Unternehmen.
Erfolgreiche Führung bedeutet heute weit mehr, als die gewünschten wirtschaftlichen Ergebnisse zu erzielen. Seit einigen Jahren stehen zunehmend beziehungsorientierte Aspekte im Vordergrund. Zu diesen gehört, Mitarbeitende einzubeziehen, sie zu inspirieren und eine Arbeitskultur zu schaffen, die den Bedürfnissen der Mitarbeitenden gerecht wird. Es ist daher wenig erstaunlich, dass Unternehmen den interpersonellen Kompetenzen bzw. dem «People Management» eine grosse Bedeutung beimessen, wenn sie Führungskräfte rekrutieren und entwickeln.
Auswertung
Avenir führte im Jahr 2023 insgesamt 403 Führungs-Assessments mit Unternehmen aus der ganzen Schweiz durch. An diesen nahmen 303 Männer und 100 Frauen teil, der Altersdurchschnitt betrug 43,8 Jahre. Die grosse Anzahl der Assessments ermöglicht es, einen repräsentativen Einblick zu erhalten, wie sich das Führungsverständnis entwickelt und welche Kompetenzen aktuell besonders gefragt sind.
Die Führungskompetenzen wurden aus drei verschiedenen Perspektiven erfasst und bewertet:
- Unternehmensperspektive: Welche Führungskompetenzen sind für die Unternehmen wie wichtig?
- Selbsteinschätzung: Wie bewerten Führungskräfte ihre eigenen Führungskompetenzen?
- Fremdeinschätzung: Wie bewertet der/die BeobachterIn die Führungskraft bzgl. der Führungskompetenzen?
Avenir Kompetenzmodell
Für die Auswertung und Diskussion von Führungskompetenzen sind ein gemeinsames Verständnis sowie ein ganzheitliches Bild wichtig. Hierfür eignet sich das Avenir Kompetenzmodell. Dieses bildet die in der Praxis geforderten Führungskompetenzen ab und fokussiert vier Bereiche: Self Management, People Management, Strategic & Change-Management sowie Performance Management. Die vier Bereiche bestehen wiederum jeweils aus drei Kompetenzen, wie die folgende Abbildung zeigt:
Resultate – was ist besonders aufgefallen?
Welche Führungskompetenzen sind für Unternehmen besonders wichtig? In welchen Kompetenzen schneiden Führungskräfte in der Schweiz am besten ab? Und welche Unterschiede gibt es zwischen den Geschlechtern? Diese Fragen werden im Folgenden beantwortet und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.
People Management ist noch immer der Schlüssel zum Führungserfolg
Auch im Jahr 2023 setzt sich ein Trend fort, der sich schon seit einigen Jahren abzeichnet: Unternehmen legen zunehmend mehr Wert auf menschenorientierte Führung statt auf rein fachliche Expertise. In dieser Studie gehören drei der fünf von Unternehmen am meisten gewünschten Führungskompetenzen zum Bereich «People Management»: Leadership, Kommunikation sowie Kooperation & Konfliktmanagement.
- Leadership beinhaltet Führungsanspruch, Führungsverhalten, Entwicklungsorientierung. Die zugrundeliegende Frage lautet: Wie führt die Führungskraft?
- Kommunikation beinhaltet Auftreten, Präsenz, Kommunikationsfähigkeit sowie Gesprächsführung. Die zugrundeliegende Frage lautet: Wie wird die Führungskraft wahrgenommen?
- Kooperation & Konfliktmanagement beinhaltet Beziehungsgestaltung, Konfliktverhalten sowie Teamfähigkeit. Die zugrundeliegende Frage lautet: Wie managt die Führungskraft ihre Beziehungen?
Diese Resultate verdeutlichen, dass für Unternehmen die «People Management»-Skills nach wie vor sehr wichtig sind. Damit rücken die Anforderungen an Führungskräfte im Bereich der Mitarbeiterführung und ‑entwicklung weiter in den Vordergrund.
Auffallend ist jedoch, dass Führungskräfte ihre eigenen Kompetenzen im Bereich «People Management» vergleichsweise eher tief einschätzen. Besonders Kooperation & Konfliktmanagement sowie Kommunikation befinden sich sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdbeurteilung am unteren Ende der Rangliste.
Dieser Gap zwischen Erwartungen der Unternehmen und mitgebrachten Fähigkeiten der Führungskräfte zeigt sich ebenfalls in der Praxis: Weiterbildungsmöglichkeiten zu genau diesen Themen sind weiterhin sehr gefragt. Auch Avenir bekommt diesbezüglich viele Anfragen und unterstützt Führungskräfte in der ganzen Schweiz mit Leadership-Trainings im Bereich «People Management» bei typischen Fragestellungen: Wie lebe ich Führung? Wie gehe ich mit Konflikten um? Wie werde ich wahrgenommen?
Die Zukunft wird zeigen, wie lange der Fokus auf genau diesen Themen im Bereich «People Management» bleibt bzw. wann sie von anderen gefragten Führungskompetenzen abgelöst werden. Denn auch einige Kompetenzen aus dem Bereich «Self Management» spielen vorne mit. Hierzu zählt die von den Unternehmen geforderte Motivation (Platz 2), die von den Führungspersonen nicht nur erfüllt, sondern besonders positiv bewertet wird –sowohl bei der Fremd- als auch bei der Selbstbeurteilung.
Zusätzlich verlangt die neue Arbeitswelt immer mehr projektbasiertes und selbstständiges Arbeiten, was wiederum ein hohes Mass an «Self Management» erfordert. Wie die Resultate zeigen, bringen Führungskräfte die benötigten Führungskompetenzen Motivation (Platz 1 in der Fremd- und Selbstbeurteilung) und Belastbarkeit (Platz 2 in der Fremdbeurteilung) mit.
Führungskräfte sind belastbarer geworden, aber nicht alle gleich stark
Im Vergleich zum Vorjahr war den Unternehmen im Jahr 2023 die Führungskompetenz Belastbarkeit signifikant weniger wichtig. War sie 2022 noch in den Top 3, landete sie 2023 bereits auf Platz 7. Wieso?
Belastbarkeit beinhaltet Handlungsfähigkeit unter Druck, Resilienz, Ausdauer, Stressbewältigung sowie Ressourcenmanagement. Die zugrundeliegende Frage lautet: Wie belastbar ist die Führungskraft?
Eine mögliche Erklärung ist, dass sich viele Führungskräfte zu einem gewissen Grad an die immer schneller werdenden Veränderungen in den letzten Jahren gewöhnt haben – man denke zurück an die Coronapandemie, geopolitische Unsicherheiten oder die neuesten technischen Entwicklungen, die die Arbeitswelt nachhaltig beeinflusst haben. Es ist daher gut vorstellbar, dass sich die Kompetenz Belastbarkeit bei vielen Führungskräften in den vergangenen Jahren etwas weiterentwickelt hat, wodurch die Anforderungen seitens der Unternehmen möglicherweise eher abgenommen haben.
Die Daten deuten in diese Richtung. Gemäss Fremdbeurteilung durch die AssessorInnen steht die Führungskompetenz Belastbarkeit an zweitoberster Stelle. Das heisst also, dass die Führungskräfte hierbei im Vergleich zu den elf weiteren Kompetenzen besonders hoch abschneiden. Dieses Ergebnis zeigt sich nicht nur in den Daten aus dem Jahr 2023, sondern auch schon 2022.
Darüber hinaus befindet sich auch die Kompetenz Transformation auf der Überholspur: Führungskräfte schätzen sich hier selbst deutlich höher ein als noch im Vorjahr. Dies verdeutlicht, dass die Veränderungsbereitschaft und Transformationsfähigkeit von Führungskräften zugenommen haben. Dies wiederum kann als Hinweis dafür interpretiert werden, dass Führungskräfte belastbarer geworden sind.
Auffällig ist jedoch, dass Frauen in der Fremdbeurteilung als erheblich weniger belastbar wahrgenommen werden als Männer. Dies könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, wieso Frauen weniger oft in höheren Führungsstufen anzutreffen sind.
Top-Sharing als eine passende Lösung für mehr Frauen in Führungspositionen
Aktuelle Statistiken aus der Schweiz zeigen, dass Frauen nach wie vor deutlich häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer (BFS, 2024b). Es ist daher gut vorstellbar, dass Frauen aufgrund der stärkeren Beanspruchung durch das Vereinbaren von Beruf und Familie nicht etwa «weniger belastbar» im Sinne des Verständnisses nach Kordsmeyer et al. (2024) sind, sondern eher «mehr belasteter». Dieses Bild zeigen auch aktuelle Daten des BFS aus dem Jahr 2023.
Die zusätzliche Belastung, mehrere Lebensbereiche gleichzeitig bewältigen zu müssen, kann dazu führen, dass Frauen sich seltener auf Führungspositionen bewerben. Dies liegt nicht daran, dass sie weniger fähig wären. Sie wollen sich aber den Anforderungen des Top-Managements unter den aktuellen Bedingungen nicht anpassen oder schaffen es zeitlich schlicht nicht.
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den statistischen Daten wider. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen stagniert.
Wenn Unternehmen den Frauenanteil in Führungspositionen erhöhen möchten, sollten sie das Führungsverständnis und die Rahmenbedingungen im Top-Management so gestalten, dass sie auch im Sinne der Vereinbarkeit von Beruf und Familie attraktiv sind.
Ein vielversprechender Ansatz zur Förderung von Frauen in Führungspositionen ist das Arbeitsmodell des Top-Sharings. Dieses noch vor zehn Jahren kaum bekannte Modell erfreut sich inzwischen wachsender Beliebtheit. Zwei Personen teilen sich hierbei eine Führungsposition und übernehmen gemeinsam die Verantwortung. Dadurch wird die Vereinbarkeit von beruflichen und privaten Verpflichtungen deutlich erleichtert, ohne dass die Qualität der Führung leidet.
Da liegt es auf der Hand, dass insbesondere die aktuell von Unternehmen stark gefragten Kompetenzen des People Managements – wie Kommunikation sowie Kooperation und Konfliktmanagement – zu einer erfolgreichen Umsetzung dieses Modells beitragen.
Die Ansprüche verschiedener Zielgruppen – und das sind bei weitem nicht nur Mütter – führen dazu, dass Top-Sharing bereits in naher Zukunft nicht mehr wegzudenken sein wird. In anderen Worten: Top-Sharing könnte ein Schlüssel sein, um mehr Frauen für Führungspositionen zu gewinnen und gleichzeitig die Attraktivität des Top-Managements für alle, die eine bessere Work-Life-Balance anstreben, zu erhöhen.
Ich reflektiere, also führe ich – die Sache mit der Selbstreflexion
Eine Grundvoraussetzung für die eigene Entwicklung ist es, sich selbst zu reflektieren und aus Erfolgen oder Misserfolgen zu lernen. Wer keine offene Grundhaltung mitbringt und sich nicht aktiv weiterentwickelt, wird stehenbleiben. Das gilt nicht nur für die Arbeit von Führungskräften, sondern allgemein im Leben.
Die Kompetenz Selbstreflexion und Lernbereitschaft bildet in einem gewissen Sinne das Fundament für die Entwicklung aller anderen Kompetenzen. Man könnte sie auch als «Befähiger» für weitere Kompetenzen bezeichnen. Umso überraschender ist das Resultat, dass Unternehmen diese Kompetenz als unwichtig einstufen: Selbstreflexion und Lernbereitschaft landet auf dem letzten Platz der insgesamt 12 Kompetenzen.
Selbstreflexion und Lernbereitschaft beinhaltet Reflexionsfähigkeit und Selbsterkenntnis, fachliche und persönliche Lernbereitschaft sowie Neugierde und Anpassungsvermögen. Die zugrundeliegende Frage lautet: Wie lernbereit ist die Führungskraft?
Interessanterweise zeigen die Daten einen klaren Geschlechterunterschied: Frauen werden in der Fremdbeurteilung in Bezug auf Selbstreflexion und Lernbereitschaft signifikant höher bewertet als Männer. Passend dazu weicht die Selbstbeurteilung von Männern stärker von der Fremdbeurteilung ab als die der Frauen. Dieses Resultat deckt sich auch mit dem aktuellen Forschungsstand, dass sich Frauen und Männer bezüglich Empathie sowie Selbstreflexion unterscheiden, und zwar nicht nur im Führungskontext.
Wenn die beiden Resultate kombiniert werden, gelangt man zu folgender Schlussfolgerung: Frauen sind zwar selbstreflektierter, Unternehmen schätzen diese Kompetenz aber als relativ unwichtig ein. Doch ist sie das wirklich?
Eine mögliche Erklärung ist, dass Unternehmen diese «eher weiblichere Kompetenz» weniger relevant finden, da sie ihren Fokus vor allem auf traditionell «männlich» geprägte Kompetenzen legen. Führungspositionen sind schliesslich zu drei Vierteln von Männern besetzt, also ist es naheliegend, dass «männlichere Kompetenzen» in der Bewertung mehr Gewicht kriegen. Doch sollten sie das auch? Vor allem, wenn ein Unternehmen mehr Frauen oder generell mehr Diversität fördern möchte?
Diese Thematik bietet eine Gelegenheit für Unternehmen, sich selbst ebenfalls kritisch zu hinterfragen: Welche Kompetenzen sind uns wichtig und warum? Welche Kompetenzen haben wir bereits gut abgedeckt und wo besteht noch Verbesserungspotenzial?
Denn sowohl für Führungskräfte als auch für Unternehmen gilt: Wer aufhört, sich selbst zu reflektieren, bleibt stehen.
Take-Home-Message
People Management als gefragte Führungskompetenz erreicht die Schweizer Unternehmen. Setzen auch Sie den Fokus darauf – und seien Sie für die Zukunft bereit.
▶ Viele Unternehmen legen ihren Fokus verstärkt auf die beziehungsorientierten Führungskompetenzen Leadership und Kommunikation. Aber auch der Motivation, einer Kompetenz aus dem Bereich «Self Management», wird grosse Bedeutung zugeschrieben.
▶ Führungskräfte schätzen sich selbst als belastbar ein. Belastbarkeit, ebenfalls eine Kompetenz aus dem Bereich «Self Management», ist für Unternehmen im letzten Jahr jedoch weniger wichtig geworden.
▶ Top-Sharing eignet sich für die Förderung von Frauen in Führungspositionen, aber auch von vielen weiteren Zielgruppen. Es ist eine erprobte Lösung dafür, mit Mehrbelastung umzugehen.
▶ Frauen sind selbstreflektierter als Männer, doch Unternehmen bewerten diese Kompetenz als relativ unwichtig. Hier bietet sich die Chance für Unternehmen, sich selbst und die eigenen Erwartungen an die Kompetenzen der Führungskräfte einmal mehr zu reflektieren.
Haben Sie weitere Fragen zu den Ergebnissen? Würden Sie sich gerne mit uns über das Thema austauschen oder sind Sie am Leadership-Kompass 2025 interessiert? Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme.
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