Die geteilte Führung: Mehr Innovation als Lohn für den Mut zum Risiko

Der Chef befiehlt und die Angestellten führen aus: Diese Form der Führung ist nicht länger zeitgemäss. Vielmehr braucht es eine Organisation, welche in einer unbeständigen Umgebung schnelle Entscheidungen erlaubt: die geteilte Führung. Die Forschung zeigt, dass solche Teams nicht nur zufriedener sind, sondern auch komplexe Situationen besser meistern.

Traditionell legt die Führungsforschung den Fokus auf individuelle Führungspersonen im Sinne einer vertikalen Organisation der Arbeitsprozesse. Die vereinfachenden Annahmen der traditionellen Führungsforschung mit ihrer Konzentration auf einen einzelnen Teamleiter scheinen bei der Erklärung von Teamerfolg nicht mehr hilfreich und zeitgemäss zu sein. Es zeigt sich in verschiedenen Unternehmen und Branchen (siehe Beispiele), dass sich Hierarchien weniger starr präsentieren und flexible Strukturen Einzug gehalten haben.
Immer häufiger finden wir Formen der Teamarbeit, in denen sich die Teammitglieder auf der gleichen hierarchischen Ebene befinden und in denen der Leader nicht unbedingt als eine hierarchisch höhergestellte Führungskraft ausgezeichnet wird. In kurzfristigen, vorübergehenden Projektteams mit wechselndem Arbeitsauftrag geht es heute vermehrt darum, in sich schnell ändernden Situationen richtige Entscheidungen zu treffen. Je unbeständiger die Umgebung ist, desto flexibler muss ein Team darauf reagieren können. Dementsprechend flexibel muss auch das Führungsverhalten im Team sein. Man muss Entscheide rasch fällen, um die Anpassungsfähigkeit des Teams zu gewährleisten. Dabei ist es selten, dass eine einzige Person alles nötige Wissen und genügend Kapazitäten mitbringt, um der Komplexität der Entscheidungen gerecht zu werden und alleine zeitkritische Entscheidungen zu treffen.

Positive Wirkung auf Umsatzzahlen und Problemlösungsqualität

Der Blick auf die Führungsforschung zeigt, dass der Fokus auf einen einzelnen, formellen Leader vermehrt in Frage gestellt wird und sich die Idee einer «geteilten Führung» durchsetzt, welche den Aspekt der informellen Führung berücksichtigt und Führung als Gruppenphänomen betrachtet. Die Idee der geteilten Führung ist nicht neu; bereits frühere Führungs- beziehungsweise Organisationstheorien haben eine sogenannte «laterale Führung» in Betracht gezogen und liefern die Grundlage für die neudefinierte Theorie der geteilten Führung respektive haben diese Idee gestützt (zum Beispiel Co-Leadership, Social Exchange Theory, Management by Objectives). Die Modelle der geteilten Führung beschreiben Führung als wechselseitige Einflussnahme von und auf Teamglieder, die neben der formellen Führungskraft ebenfalls in die Teamführung eingebunden sind. Mehrere aktuelle Studien bestätigen die Effektivität von geteilter Führung für die verschiedensten Arten von Teams (beispielsweise Projektteams, virtuelle Teams, Anästhesieteams), und zwar aus Sicht der Teammitglieder und der Führungspersonen, aber auch im Sinne des Teamerfolgs. So wirkt sich die geteilte Führung positiv auf Umsatzzahlen, Problemlösungsqualität oder auf raschere und effizientere Entscheidungen aus. Bestätigt werden diese positiven Effekte auch von Führungspersonen in verschiedenen Branchen (siehe Beispiele). Führung zu teilen, bedeutet demnach, zwar mehr Risiko einzugehen, aber auch innovativer zu denken und zu entscheiden und dadurch Organisationsstrukturen zu entwickeln, die reaktionsfähiger, flexibler und erfolgreicher sind.

Mitglieder erfolgreicher Teams entlasten die formale Führungskraft

Weiterhin zeigt die Forschung, dass Mitglieder von Teams mit geteilten Führungsstrukturen zufriedener sind und sich sozial integrierter fühlen. Als vorteilhaft für den Teamerfolg erweist sich geteilte Führung besonders bei komplexen Aufgaben. Es wird davon ausgegangen, dass kein Individuum alle nötigen Fähigkeiten mitbringt, um alle Anforderungen der Aufgabe lösen zu können. Im Rahmen der geteilten Führung können die Vorteile eines heterogen zusammengesetzten Teams genutzt werden: Die verschiedenen Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Erfahrungen der einzelnen Teammitglieder stellen eine Führungsressource dar, die – richtig genutzt – wesentlich zum Teamerfolg beitragen kann. Erfolgreiche Teams haben gemeinsam, dass die Mitglieder sehr eng interagieren, kooperieren und sich gegenseitig im Sinne ihrer Fähigkeiten unterstützen. Da die Teammitglieder oftmals spezifische Expertisen mitbringen, über welche die formale Führungsperson nicht verfügt, wird sich diese hüten, fachliche Einsprache zu erheben, und stattdessen die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter fördern, damit diese ihre Expertise und Erfahrung zur richtigen Zeit im Dienste des Teamerfolgs einsetzen. Die Führung zu teilen, heisst deshalb nicht, dass sich die formale Führungsperson der Verantwortung entziehen kann. Forschungsergebnisse wie auch Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass die Führung im Team zwar geteilt wird, trotzdem aber eine formale Führungsperson im Hintergrund ist, die letztendlich die Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg trägt. Die Teamführung und die vertikale Führung im Sinne eines formalen Leaders schliessen sich nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig.

So beeinflusst die formale Führungskraft die Teamprozesse und unterstützt beispielsweise Informations- oder Kommunikationsprozesse, motiviert oder stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Häufig übernimmt die formale Führungskraft zu Beginn den Lead, formuliert Ziele, legt Teamrollen fest oder stellt Ressourcen zur Verfügung. Im Laufe der Teamentwicklung bringen aber die Teammitglieder ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und ihre Expertise in die Bearbeitung von Aufgaben mit und nehmen Einfluss auf die Führungsprozesse des formellen Führers. Die Expertise der Teammitglieder trägt dazu bei, die formale Führungsperson von Führungsaufgaben zu erleichtern und damit einer Überlastung entgegenzuwirken.

Umgekehrt wird die geteilte Führung nicht die erhofften positiven Effekte zeigen, wenn die Teammitglieder beispielsweise zu wenig oder die falschen Erfahrungen und Fähigkeiten mitbringen, wenn die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel fehlt oder wenn keine Zeit zur Entwicklung von geteilter Führung da ist.

Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung von geteilter Führung

  • Auswahl der richtigen Teammitglieder: Neben fachlicher Erfahrung, Fähigkeiten und Expertise sollten die Mitarbeitenden hohe soziale Kompetenzen, Bereitschaft zur Kooperation und Koordination sowie hohe Eigenverantwortung und Selbständigkeit mitbringen.
  • Entwicklung der Teammitglieder: Damit geteilte Führung entstehen kann, müssen die Teammitglieder ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich gegenseitig soziale Unterstützung zusichern. Dementsprechend sollen die Identifikation mit dem Team im Sinne eines Wir-Gefühls sowie die Interaktion und der Austausch der Teammitglieder untereinander gefördert werden. Insbesondere für Mitarbeitende mit wenig Führungserfahrung muss zudem das Führungsverhalten aktiv und zielgerichtet entwickelt werden.
  • Vertrauen in die Teammitglieder: Ermutigung der Teammitglieder, Führungsfunktionen zu übernehmen und einen Beitrag zur Problemlösung und Entscheidungsfindung zu leisten, ist eine wichtige Voraussetzung, um geteilte Führung einzuführen. Das Ziel der
    formalen Führungsperson sollte sein, Teamprozess zu etablieren, die den Aufbau von geteilter Führung unterstützen und das Team darin fördern, nicht nur Team-, sondern auch Führungsprozesse zu leben.
  • Schaffung einer entsprechenden Team- oder Unternehmenskultur: Die Schaffung geteilter Führung im Team bedingt eine entsprechende Team- oder Unternehmenskultur, die geteilte Führung im Unternehmen nicht nur unterstützt und fördert, sondern auch erlaubt, der formalen Führungsperson zu «widersprechen» und ihre Handlungen in Frage zu stellen. Ebenso braucht es Gruppennormen, welche die Verteilung von Führungsaufgaben unterstützen. Wichtig ist ausserdem das Vertrauen der formellen Führungsperson in die Fähigkeiten der Teammitglieder.

Original-Artikel

Quelle: HR Today
Ausgabe: 05/2010