Digitalisierung im Personalmarketing

Für die meisten Unternehmen sind die Mitarbeitenden eine entscheidende Schlüsselgrösse des Erfolgs, sowohl auf der Kostenseite als auch auf der Ebene der Erfolgsfaktoren. Aktuelle Studien zeigen, dass die Investitionen ins Thema Arbeitgebermarke und Personalmarketing steigen, genauso wie in die Personalauswahlprozesse und Tools. Dave Husi von personalSCHWEIZ hat mit Patrick Estermann, HR IT Consultant, und Dr. Silvan Winkler, Senior Manager People Analytics, Avenir Group in Zürich, über den Impact der Digitalisierung auf das Personalmarketing gesprochen.

Wie schätzen Sie den Digitalisierungsgrad von Schweizer Unternehmen in der Personalgewinnung ein?
Patrick Estermann (PE): Von einer digitalen Zweiklassengesellschaft in der Personalgewinnung zu sprechen, wäre polemisch. Dennoch, grosse und mittlere bis kleine Unternehmen sind mit unterschiedlicher Schuhgrösse unterwegs. Big Players setzen oft schon vor und während der Rekrutierung bis hin zum Onboarding benutzerfreundliche Tools ein und integrieren diese quasi nahtlos. Die Basis für Big Data, KPI-Erhebung und Advanced Analytics und AI ist gelegt. Beim Mittelstand zeigt sich ein anderes Bild – die Rekrutierungstechnologie ist nicht selten schon in die Jahre gekommen und beschränkt sich meist auf die Administration der Bewerbungen. HR verfügt nicht über die technischen Mittel und teilweise auch nicht über das Know-how, um ein optimiertes Bewerbererlebnis zu ermöglichen.
Nun die gute Nachricht: Im Markt für Rekrutierungstechnologie herrscht Goldgräberstimmung. Kontinuierlich erscheinen neue Tools, die für Bewerber und HR intuitiv bedienbar sind und Reporting sowie Kennzahlenerstellung bereits in der DNA enthalten. Gewisse sind für Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden bereits finanziell tragbar.

Die Messung der HR-Aktivitäten gewinnt zunehmend an Bedeutung:
Was sind gängige KPIs, die im Kontext von Personalmarketing häufig erhoben werden?
Dr. Silvan Winkler (SW): Klassische KPIs in diesem Bereich sind z.B. die Kosten pro Rekrutierung oder die Time-to-hire, also die Zeit, die zwischen der ersten Kontaktaufnahme und der Einstellung verstreicht. Aktuell beschäftigen sich viele Unternehmen vermehrt mit der Channel Effectiveness, also mit der Analyse dazu, welche Rekrutierungskanäle tatsächlich dabei helfen, die gewünschten Kandidaten zu finden.

Wie gut gelingt es Schweizer Unternehmen, solche KPIs tatsächlich zu messen?
PE: Das Bewusstsein, dass der Zugriff auf qualitativ hochwertige KPIs im anspruchsvollen Kandidatenmarkt einen Wettbewerbsvorteil bringt, ist gestiegen.
Für viele Unternehmen stellt aber bereits die Bereitstellung von ein paar wenigen KPIs eine grosse Herausforderung dar. Am Anfang steht immer die Frage: «Wie kriegen wir die Daten aus den Systemen?» Oft fehlt es an einfach zu bedienender Technologie für die Datenextraktion; HR sucht dann die Unterstützung der IT Abteilung,
und die Erzeugung der Daten wird zur Ochsentour. Wir beobachten auch manuell ausgeführte Datenbankabfragen – niemand im HR wisse, ob die selbst erstellten KPI-Abfragen akkurate Resultate liefern, hat kürzlich ein HR-Verantwortlicher eines mittelgrossen Unternehmens gesagt. Das darf natürlich nicht sein. Die nächste grosse Hürde kommt, wenn Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammengeführt werden müssen.

Welche Vorteile haben Unternehmen, wenn es ihnen gelingt, diese KPIs zu messen?
SW: Neben einer erhöhten Transparenz und einer dadurch erhöhten Steuerbarkeit können mittelfristig auch Kosten eingespart werden, z.B. indem ineffektive
Rekrutierungskanäle zurückgefahren werden. Es sind also letztendlich wirtschaftliche Überlegungen, ganz im Sinne von «What gets measured gets managed» – das wusste schon Peter Drucker. Zudem machen sich diese Überlegungen zurzeit viele Unternehmen, wodurch auch ein gewisser Konkurrenzdruck entsteht.

PE: Die Vorteile werden noch deutlicher sichtbar, wenn es gelingt, die Kennzahlen in der Personalgewinnung nach Zielgruppen und allenfalls nach geografischen
Kriterien zu erheben. Wir müssen folglich nicht nur verstehen, welche Kanäle funktionieren, sondern auch, für welche Zielgruppe sie am geeignetsten sind. Analyse nach dem Giesskannenprinzip liefert nicht mehr den gewünschten Mehrwert. Personalgewinnung bewegt sich weg von der Selektionsperspektive hin zu einer (Personal-)Marketing-Disziplin. Ein «Beauty Contest» der Arbeitgeberattraktivität. Das tiefe Verständnis für Zielgruppen ist hierfür zentral. Die Hauptvorteile in der Selektion, im Sinne einer effizienten Auswahl der besten Bewerber, manifestieren sich in einem verbesserten Prozessablauf: kürzere Durchlaufzeit, schnellere und strukturiertere Feedbacks etc. Beim Anziehen von Talenten steht eine zielgruppenorientierte Optimierung der Touchpoints entlang der Candidate Journey im Vordergrund.

Was sind die wichtigsten ersten Schritte, die es anzupacken gilt?
SW: Ein wichtiger erster Schritt – der übrigens oft vergessen geht – ist es, sich darüber klar zu werden, was eigentlich das Ziel der Messungen sein soll. Geht es um Kontrolle? Geht es um Optimierung? Welche bestehenden Messgrössen können wir nutzen? Welche Daten müssen wir heute zu sammeln beginnen, um in einem halben Jahr erste Aussagen machen zu können? Und wie stehen die Messgrössen in Bezug zur Unternehmensstrategie? Gibt es allenfalls die Möglichkeit zu A-B-Testing, um z.B. die Wirksamkeit der Einführung neuer Kanäle gegenüber bestehenden zu messen? Wie sieht es mit dem Datenschutz aus? Diese und andere Fragen können helfen, die Ausgangslage zu klären.

PE: Punkto Technologie sollen die Selbsterkenntnisse am Anfang stehen. Wie hoch ist unsere digitale Reife entlang des ganzen Rekrutierungsfunnels? Hilfreich kann dafür eine systematische Reifegradeinschätzung sein (siehe Grafik zum Reifegrad-Modell). Danach gilt es eine realistische Ambition für die Weiterentwicklung festzulegen. Das Fundament sind klar defi nierte Kriterien, z.B. der Kundennutzen für Vorgesetzte oder aus der HR-Strategie abgeleitete Stossrichtungen, z.B. der Aufbau eines Active Sourcing. Die Evaluation neuer Technologie steht dann erst am Ende dieses Prozesses.

Wo geht die Data Analytics Journey hin?
SW: In einer aktuellen HR-Trendstudie, die wir zusammen mit dem Institut für Arbeit und Arbeitswelten der HSG durchgeführt haben, wird klar: Neben der Digitalisierung im HR ist auch das Thema Employer Branding eines der drei Themen mit dem höchsten Investitionszuwachs. Meines Erachtens ist es kein Zufall, dass beide Themen aktuell verstärkten Fokus erhalten von der HR Community, zumal die fortschreitende Digitalisierung auch ganz neue Möglichkeiten bietet, wenn es darum geht, zum richtigen Zeitpunkt die richtig qualifizierten Mitarbeitenden zu finden.

Ist Algorithmus-gestützte Diagnostik bereits in der Gegenwart angekommen?
PE: Der Glaube an das Potenzial ist immer noch gross. Nach einer anfänglichen Euphorie hat sich aber eine gewisse Ernüchterung eingestellt. Bedingt durch prominente Rückschläge, z.B. den Gender-Bias im Selektionsalgorithmus von Amazon, wird das Thema heute mit einer gesunden Skepsis betrachtet. Wir haben gelernt, dass auch Algorithmen nicht nur neutrale und sachliche Richter sind. Wir befinden uns in einer Phase des Experimentierens und versuchen die Möglichkeiten wie auch die Gefahren besser zu verstehen. In unserer Kooperation mit dem Kompetenzzentrum #HR TECH der HSG gehen wir auch Fragen der Datafizierung nach. Was sind die «do’s» und «don’ts» bei der Datenauswertung? Wie ist die Akzeptanz bei den Mitarbeitenden? Was sagt die ethische Perspektive?

Original-Artikel

Ausgabe: Februar 2020